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Wie schwerwiegend ist die COVID-19-Pandemie?

Wie schwerwiegend ist die COVID-19-Pandemie, und wie lange muss sie eingedämmt werden?
 

Mit diesen Fragen befasst sich eine neue Studie des Imperial College London, die in Zusammenarbeit mit der WHO und weiteren Institutionen erstellt wurde. Die Autor(inn)en betonen, dass die Ergebnisse ihrer Modelle keine Prognosen darstellen, jedoch die Größenordnung der Problematik und wichtige Einflussfaktoren anzeigen. Die Auswirkungen werden vor allem vom Handeln in den nächsten Wochen und Monaten abhängen (S. 3):

  • Ohne Maßnahmen zur Eindämmung wäre weltweit mit etwa 40 Millionen Todesfällen in diesem Jahr zu rechnen (Konfidenzintervall 35-42 Millionen; S. 7). Die meisten Opfer wären in Asien und Europa zu beklagen, und vergleichsweise wenige in Afrika südlich der Sahara (S. 11). In Deutschland wären es 722.000 bis 927.000 Todesfälle (Anhang). Obwohl Länder mit niedrigem Einkommen eine schlechtere Gesundheitsversorgung und größere Haushalte haben, überwiegt der positive Effekt ihres geringeren Anteils älterer Menschen auf die zu erwartenden Zahlen an Fällen mit Behandlungsbedarf sowie Todesfällen (S. 8).
  • Wird die Anzahl sozialer Kontakte pro Tag halbiert, so halbiert sich auch die Zahl der Todesfälle, auf etwa 20 Millionen (in Deutschland 230.000 bis 479.000; Anhang). Dies stellt nur ein geringes Ausmaß an Social Distancing dar (ein völliger Shutdown entspricht einer Verringerung um 87 % [1]). Auch in diesem Szenario wären die Gesundheitssysteme überfordert, in Ländern mit hohem Einkommen um den Faktor 7, in armen Ländern um den Faktor 25. In den letzteren ist die Versorgung mit Intensivmedizin um 85 % geringer als in reichen Ländern (S. 5, [2]). Sobald die Gesundheitssysteme überlastet sind, steigt die Sterberate, da nicht mehr alle schweren Krankheitsfälle behandelt werden können. Deshalb wären substantiell höhere Zahlen als in der Modellrechnung zu erwarten (S. 2, 9). Diese Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern sind in den Modellrechnungen wahrscheinlich unterschätzt, vermutlich in beide Richtungen (S. 8, 15).
  • Werden die Anzahl der täglichen Kontakte auf ein Viertel reduziert und das Testen und die Quarantäne bestätigter Fälle ausgeweitet, so können weitere Todesfälle vermieden werden (S. 7). Beginnt man damit bei einem Stand von 1,6 Todesfällen pro 100.000 Einwohnern (weltweit 123.000 Todesfälle, in Deutschland 1300 [2]), dann kann die Zahl der Todesfälle auf weltweit etwa 10,5 Millionen reduziert werden (darunter 149.000 in Deutschland) (Anhang,  [2]). Die Spitzenbelastung der Krankenhäuser und ihrer Abteilungen für Intensivmedizin würde auch in diesem Szenario die Kapazitäten weit übersteigen (S. 12; Anhang). Bei den gegenwärtigen Wachstumsraten ist in 1-2 Wochen mit dem genannten Level von 1,6 Todesfällen pro 100.000 Einwohnern zu rechnen [3].
  • Hätte man damit bereits bei 0,2 Todesfällen pro 100.000 Einwohnern angefangen (weltweit 15.400 Todesfälle, in Deutschland 168 [2]), so hätte man die Zahl der globalen Todesfälle auf 1,9 Millionen begrenzen können (davon etwa 23.000 in Deutschland) (Anhang, [2]). Nur in diesem Szenario hätten die Kapazitäten der Krankenhäuser ausgereicht (S. 12; Anhang). Leider haben wir aber bereits über 30.000 Todesfälle weltweit und über 400 in Deutschland [3]. Daher müsste bereits jetzt eher mit 4 Millionen Toten gerechnet werden [2].

Die Modellberechnungen zeigen, wie entscheidend ein schnelles und konsequentes Handeln ist.

Die Maßnahmen zur Eindämmung müssten aufrechterhalten werden, bis eine Therapie oder ein Impfstoff erhältlich ist. Je nach Entwicklung der Epidemie können die Maßnahmen gelockert und erneut eingeführt werden [4]. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die Auswirkungen veränderter Maßnahmen sich erst nach Ablauf der Inkubationszeit in den Fallzahlen niederschlagen. Eine Therapie könnte im besten Fall bereits in einigen Wochen oder Monaten getestet und zugelassen werden (z. B. Remdesivir, Lopinavir/Ritonavir oder [Hydroxy]chloroquin, ursprünglich gegen Ebola, HIV bzw. Malaria entwickelte Medikamente) [5]. Entscheidend werden der Grad der Wirksamkeit der Medikamente sowie der tatsächlichen Verfügbarkeit für die Betroffenen sein.

In Wuhan war ein zwei Monate andauernder, völliger Shutdown (mit Schließung fast aller Betriebe sowie des gesamten Verkehrssystems) offenbar erfolgreich [6]. Zum Vergleich: In Deutschland gilt derzeit ein partieller Shutdown für einen Monat.

Ein weiterer Unterschied in Deutschland (und Europa) besteht darin, dass Schutzmasken kaum verwendet (und kaum empfohlen) werden, obwohl diese die Infektionskette in 70-95 % der Fälle unterbrechen und international empfohlen werden [7].

Die vom Imperial College berechneten Zahlen an Todesfällen kommen in die Nähe derjenigen für die Influenzapandemie 1918-20 ("Spanische Grippe"), bei der die Schätzungen von 17 bis 100 Millionen Todesfällen reichen [8]. Ähnliches gilt im Hinblick auf die viel langsamer verlaufende Pandemie durch HIV/AIDS, die bis Ende 2018 insgesamt 32 Millionen Menschenleben gefordert hat [9].

Die Szenarios des Imperial College liegen auch in einer ähnlichen Größenordnung wie andere Berechnungen zu den Folgen der COVID-19-Pandemie, etwa für Großbritannien und die USA (S. 7). Für Deutschland reichen andere Schätzungen von etwa 278.000 bis über eine Million Todesfälle. So hat Prof. Christian Drosten (Charité) für den Fall ohne Eindämmungsmaßnahmen eine Anzahl von 278.000 Todesfällen in Deutschland geschätzt [10]. Weltweit entspräche dies etwa 25 Millionen, wobei das jedoch aufgrund der schlechteren Gesundheitsversorgung für die Mehrheit der Menschheit eine zu einfache und untertreibende Hochrechnung wäre [2]. Ein vertrauliches Strategiepapier der Bundesregierung nennt für den schlimmsten Fall eine Zahl von mehr als einer Million Todesfälle in Deutschland [11], was global eine entsprechend höhere Zahl bedeuten würde.

Die OECD sagt für 2020 aufgrund der Pandemie ein Schrumpfen der Weltwirtschaft um 2,4 % voraus [12].

Nach allem, was wir heute wissen können, wird die COVID-19-Pandemie die größte globale Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg sein. Die Überforderung der Gesundheitssysteme und die ökonomischen Schäden lassen außerdem eine Verschlimmerung von anderen globalen Herausforderungen wie Hunger, Neugeborenen- und Müttersterblichkeit, Finanzstabilität und Armut sowie weiteren Infektionskrankheiten erwarten (virale Hepatitis, Lungenentzündung, Tuberkulose, HIV/AIDS und Malaria). Die Folgen der Pandemie können insbesondere in weniger entwickelten Ländern gesundheitlich, sozial und wirtschaftlich absolut verheerend sein.

 


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Quellen:
 

Alle Zahlen, für die keine [Ziffer in eckigen Klammern] angegeben ist, stammen aus folgender Studie (Zusammenfassung oder angegebene Seitenzahl):

  • Patrick G. T. Walker, Charles Whittaker, Azra C. Ghani et al.: The Global Impact of COVID-19 and Strategies for Mitigation and Suppression. (COVID-19 Report 12) WHO Collaborating Centre for Infectious Disease Modelling, MRC Centre for Global Infectious Disease Analysis, Abdul Latif Jameel Institute for Disease and Emergency Analytics, Imperial College London. 26 March 2020 [version 2: 29 March 2020].
  • Anhang (Spreadsheet).

 

Anmerkungen und weitere Quellen:

  1. Man geht dabei von einer Verringerung von durchschnittlich 15 auf 2 Kontaktpersonen pro Tag aus (zumindest in Industrieländern).
  2. Eigene Berechnung aus den Werten der Studie.
  3. https://coronavirus.jhu.edu/map.html
  4. https://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/medicine/sph/ide/gida-fellowships/Imperial-College-COVID19-NPI-modelling-16-03-2020.pdf
  5. https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/woran-wir-forschen/therapeutische-medikamente-gegen-die-coronavirusinfektion-covid-19
    https://www.sciencemag.org/news/2020/03/who-launches-global-megatrial-four-most-promising-coronavirus-treatments
  6. https://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/medicine/sph/ide/gida-fellowships/Imperial-College-COVID19-Exiting-Social-Distancing-24-03-2020.pdf
  7. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/105751/Grippe-Chirurgische-Maske-schuetzt-genauso-gut-wie-teure-N95-Atemschutzmaske
    "As evidence suggests COVID-19 could be transmitted before symptom onset, community transmission might be reduced if everyone, including people who have been infected but are asymptomatic and contagious, wear face masks." "Perhaps it would also be rational to recommend that people in quarantine wear face masks if they need to leave home for any reason, to prevent potential asymptomatic or presymptomatic transmission. In addition, vulnerable populations, such as older adults and those with underlying medical conditions, should wear face masks if available." https://www.thelancet.com/action/showPdf?pii=S2213-2600%2820%2930134-X
  8. https://academic.oup.com/aje/article/187/12/2561/5092383
    http://www.millenniumassessment.org/documents/document.356.aspx.pdf (S. 89)
    https://wwwnc.cdc.gov/eid/article/12/1/05-0979_article
    https://muse.jhu.edu/article/4826
    http://www.euro.who.int/en/health-topics/communicable-diseases/influenza/pandemic-influenza/past-pandemics
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK513241/
  9. https://www.unaids.org/en/resources/fact-sheet
  10. https://www.heise.de/newsticker/meldung/Zahlen-bitte-3-4-Coronavirus-Fallsterblichkeit-False-Number-4679338.html?seite=all
  11. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-in-deutschland-vertrauliche-regierungsstudie-beschreibt-verschiedene-szenarien-a-1cafaac1-3932-434d-b4de-2f63bce0315d
  12. https://issuu.com/oecd.publishing/docs/oecd-interim-economic-outlook-coronavirus-impact-m/4

 

Empfohlene Zitierweise:
Global2030: Wie schwerwiegend ist die COVID-19-Pandemie, und wie lange muss sie eingedämmt werden? Berlin, Global Challenges Initiative e. V., 29. März 2020. (www.global2030.net/news/1585515968-covid19_de.html).